von Franziska Ehrl
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25. Oktober 2025
Zwischen Windstille und Aufbruch – Klangbilder des Meeres Das Meer – unendlich, geheimnisvoll, majestätisch. In der Musikgeschichte steht es seit jeher als Symbol für Naturgewalt, Sehnsucht, Gefahr und Fernweh. Zwei Komponisten, zwei Jahrhunderte, zwei völlig unterschiedliche Zugänge – und doch vereint sie die Faszination für das weite Wasser: Ludwig van Beethovens „Meeresstille und glückliche Fahrt“ und Ralph Vaughan Williams’ „A Sea Symphony“ entführen uns in maritime Klangwelten, die gegensätzlicher kaum sein könnten – aber gemeinsam ein eindrucksvolles Panorama zeichnen. Ludwig van Beethoven (1770–1827): Meeresstille und glückliche Fahrt, op. 112, Beethovens kurze Kantate für Chor und Orchester basiert auf zwei Gedichten von Johann Wolfgang von Goethe – Meeresstille und Glückliche Fahrt – die inhaltlich wie musikalisch ein Kontrastpaar bilden. Im ersten Teil herrscht völlige Windstille: Kein Lüftchen kräuselt das Wasser, das Schiff steht still. Für Seeleute einst ein bedrohlicher Zustand, wird diese Starre von Beethoven mit langen, getragenen Akkorden und einer fast beklemmenden Ruhe umgesetzt. Der Chor singt von „tiefer Stille“, das Orchester verharrt in spannungsvoller Bewegungslosigkeit. Dann aber die Wende: Ein Windstoß, ein Aufatmen, ein Aufbruch. Die Musik bricht in lebhafte Bewegung aus – das Schiff gleitet endlich über das Meer. Beethoven lässt die „glückliche Fahrt“ in schimmernden Klangfarben erstrahlen, das Orchester jubelt förmlich. Die Hoffnung, die Kraft der Natur, das Vorwärtsdrängen – all das bündelt sich in wenigen Minuten Musik. Goethe selbst war von Beethovens Vertonung begeistert. Und bis heute zeigt dieses kurze Werk, wie eindrucksvoll der Wechsel zwischen Stille und Bewegung in Musik übersetzt werden kann. Ralph Vaughan Williams (1872–1958): A Sea Symphony Fast ein Jahrhundert später widmet sich Ralph Vaughan Williams in seiner Sea Symphony dem Meer – doch mit ganz anderen Mitteln und Absichten. Es ist seine erste Sinfonie, uraufgeführt 1910, und gleichzeitig ein visionäres Werk, das sich nicht nur mit dem Ozean beschäftigt, sondern mit der menschlichen Existenz auf und jenseits des Wassers. Die Grundlage bilden Texte des amerikanischen Dichters Walt Whitman, dessen freigeistige, poetische Sprache Vaughan Williams tief beeindruckte. Anders als bei Beethoven steht nicht ein konkretes Naturbild im Zentrum, sondern das Meer als Metapher: für das Leben, die Entdeckung, die Suche nach dem Selbst. Die Sinfonie beginnt imposant – mit Chor, großem Orchester und einem weit ausholenden Ruf: „Behold, the sea itself!“ Schon hier wird klar: Dies ist keine herkömmliche Sinfonie, sondern ein monumentales Chorwerk in vier Sätzen, das Grenzen sprengt. Im ersten Satz (A Song for All Seas, All Ships) wird das Meer zum Sinnbild für Menschheit und Gemeinschaft. Der zweite Satz (On the Beach at Night Alone) ist introspektiv, fast mystisch – ein nächtlicher Monolog an der Küste, getragen vom Bariton-Solo und subtilen Orchesterfarben. Im dritten Satz (The Waves) malt Vaughan Williams ein klangliches Gemälde von tanzenden, schäumenden Wellen – rhythmisch bewegt und voller Energie. Der Finalsatz (The Explorers) öffnet den Blick in die Ferne: auf die Fahrt der Menschheit in unbekannte Welten. Hier geht es nicht mehr um reale Seefahrt, sondern um das Streben nach Erkenntnis und geistiger Freiheit. Die Musik hebt ab, der Chor singt von „untried seas“ – noch unversuchten Meeren – und die Sinfonie endet in einer visionären Apotheose. A Sea Symphony ist ein Werk voller Emotion, Spiritualität und Größe. Vaughan Williams gelingt es, Whitmans universale Gedanken in ein klangliches Erlebnis zu verwandeln, das bis heute tief bewegt. Ein musikalischer Dialog über das Meer Beethoven und Vaughan Williams – zwei Komponisten mit sehr unterschiedlichem musikalischem Vokabular, aber beide vom Meer inspiriert. Während Beethoven eine fast kammermusikalische, klare Miniatur schafft, entfaltet Vaughan Williams eine sinfonische Weltreise. Gemeinsam zeigen sie, wie das Meer in der Musik zum Spiegel menschlicher Erfahrung wird: von der lähmenden Ruhe bis zum euphorischen Aufbruch, von der äußeren Natur zur inneren Suche. Ein Konzert wie eine Fahrt durch Zeit, Raum und Gefühl – mit dem Meer als ständiger Begleiter.